Als ich vor vielen Jahren zum ersten Mal die Ironman-WM auf Hawaii im Fernsehen verfolgt hatte, war es für mich schlichtweg unvorstellbar, dass Menschen eine solche Leistung vollbringen können: 3,8 Kilometer schwimmen, 180 Kilometer Rad fahren, und anschließend noch einen kompletten Marathon von über 42 Kilometern laufen. Das Ganze am Stück, an einem einzigen Tag innerhalb von maximal verfügbaren 17 Stunden. An diesem Tag hatte es mich gepackt, das Triathlonfieber, und für einige Jahre bis heute nicht mehr losgelassen. Und seit letztem Sonntag darf ich selbst von mir behaupten: I am an Ironman!
Bild oben: Mein Rennen in Zahlen. Etwas über zwölf Stunden entsprach vollkommen meinen Erwartungen. Wie es genau lief und welche Höhen und Tiefen es gab, berichte ich weiter unten ausführlich in allen Details.
Angemeldet hatte ich mich für die Ironman-Veranstaltung in der kanadischen Provinz Quebec bereits vor etwa zehn Monaten. Seitdem habe ich beinahe Tag für Tag trainiert, durchschnittlich etwa 14 Stunden pro Woche abwechselnd im Wasser, auf dem Rad, oder in meinen Laufschuhen verbracht. All die Anstrengungen, die Disziplin, der Verzicht, das frühe Aufstehen während der letzten zwölf Monate gipfelten nun schließlich in einer im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubenden Wettkampfwoche in Mont-Tremblant, Quebec, Kanada; und sie waren es wert. So viele Eindrücke, so viele Erfahrungen in nur fünf Tagen - wer möchte, kann diese in den folgenden Absätzen versuchen leserlich nachzuvollziehen (ca. 7200 Wörter, 55 Minuten Lesedauer - die sich bestimmt lohnt).
Wer nicht gerne liest, der kann hier ein paar Video-Eindrücke sammeln (unsere Amateuraufnahmen) oder hier den professionellen Edit anschauen (Facebook-Video des Veranstalters. Ich komme leider nicht darin vor).
Inhalt:
Donnerstag: Ankunft in Mont-Tremblant
Samstag: Letzte Vorbereitungen
Donnerstag: Ankunft in Mont-Tremblant
Seit einigen Tagen ging ich nun schon meine endlos lange Liste der Dinge durch, die ich einpacken musste. Über 100 Gegenstände…. vom Fahrrad und der dazugehörigen Ausrüstung, über den Neoprenanzug, Verpflegung, Werkzeug und Kleidung, Ersatzteile. Donnerstagvormittag war das Auto randvoll gepackt und wir machten uns bei vielversprechendem Augustwetter und guten Aussichten auf den etwa zweistündigen Weg von Ottawa, Ontario in Richtung Nordosten nach Mont-Tremblant, Quebec. Wie komfortabel, nur 180 Kilometer entfernt vom Wettkampfort zu wohnen! Die meisten anderen Athleten hatten ungleich längere Strecken mit Auto oder gar Flugzeug zu bewältigen, über die Hälfte reisten aus 40 unterschiedlichen Staaten der USA an, viele andere auch von noch weiter entfernten Gegenden.
Bild oben: Mont-Tremblant ist ein malerisches kleines Touristenstädchen. Im Winter Ski-, im Sommer Sport- und Wandertourismus.
Am frühen Nachmittag kamen wir im Ironman-Village an. Bestes Wetter im Touristendorf, welches recht offensichtlich den größten Ansturm im Winter hat. Es gibt mehrerer Skilifte im Ort, und alles ist zu Fuß erreichbar. Unter dem blauen Himmel und seinen vereinzelten weißen Wolken wirkten die bunten Häuser und sauberen Gassen wie aus einem überzeichneten Kunstfilm.
Unverkennbar war Rennwochenende – an jeder Ecke das Ironman-Branding, mittendrin ein riesiges Zelt wo später alle möglichen Veranstaltungen und am Sonntag die Wechselzonen eingerichtet wurden. Einige Athleten waren schon da und erkundeten gemeinsam mit ihren Familien den malerischen Ort. Wir schlenderten umher, machten uns mit den Gegebenheiten vertraut und besuchten die Ironman-Expo; natürlich nicht ohne ein paar überteuerte Souvenirs in Form von Sportbekleidung mitzunehmen.
Nachdem auch die Startunterlagen abgeholt waren, checkten wir im Hotel ein – etwa fünf Kilometer entfernt vom eigentlichen Ort des Geschehens. Wie die genaue Logistik am Sonntagmorgen aussehen würde, mussten wir uns während der kommenden Tage noch überlegen.
Ein lockerer Lauf für etwa 30 Minuten rundete den Abend ab – nun galt es, möglichst viel auszuruhen und Schlaf zu bekommen.
Freitag: Essen und besprechen
First thing on Friday after the breakfast was a last short bike ride before the actual race. Easing the legs, checking the setup, and having a look at the track. I rode one round of the running course and met some others who had a similar idea.
Bild oben: Ein letzter Check der Technik am Rad im Hotelzimmer. Am nächsten Tag musste es in der Wechselzone abgegeben werden.
Am späten Nachmittag fand das Ironman Banquetstatt – über 2000 Menschen wurden gleichzeitig im großen Veranstaltungszelt mit warmen Abendessen eines lokalen Caterers versorgt. Die Auswahl war in Ordnung (Salat, Nudeln, Fisch, Kartoffeln, Brötchen, Hühnchen), die Qualität war ok. Im Anschluss an die Mahlzeit wurde das obligatorische Athlete Briefingwas scheduled: Many organizational announcements regarding the next two days, the most important race rules were explained once more, along with the respective penalties. At this point I realized the first time that I am actually in the middle of final Ironman preparations. So many things had to be considered: when and where which of our five transition and special needs bags had to be dropped off; which penalties were given for which violation, like drafting, littering, blocking, or passing in no-passing zones. Which checkpoints had to be passed to make the cut-offs; locations of all the aid stations; order of nutrition served at those stations. Most of it was already known to me. But still, being confronted with all of that information was overwhelming and my joyful anticipation increased as much as my respect for the competition itself.
Picture above: Final athlete briefing after a joint dinner within the large event tent. Also in the picture: this year’s oldest competitor – 75 years old! (bottom left). Two days later he’d finish his 50th Ironman and it took im about 16 hours.
Samstag: Letzte Vorbereitungen
Es heißt, die vierte Disziplin im Triathlon ist der Übergang zwischen den Sportarten. In der Wechselzone bereitet sich der Athlet auf die jeweils nächste Disziplin vor – nach dem Schwimmen aufs Rad fahren, und anschließend aufs Laufen. Entsprechend müssen die Wechselzonen am Tag vor dem Wettkampf eingerichtet werden. In jeweiligen Plastikbeuteln, versehen mit der eigenen Startnummer, verstaut man alles was man braucht: Helm, Radhandschuhe, Sonnencreme, Essen und Trinken, Radschuhe, Laufschuhe, Socken, Handtuch, Sonnenbrille, Mütze usw. Es gibt einen Beutel für Wechselzone 1 und einen weiteren Beutel für Wechselzone 2.
I had very carefully packed my bags already yesterday, based on a long and exhaustive list I created on my computer, listing all the items I would need at different stages of my race. Triathlon is a logistical nightmare!
Bild oben: Die blauen Wechselbeutel für das Rad fahren, sortiert nach Startnummer. Im Hintergrund die eigentlichen Wechselbereiche. Auf der anderen Seite das gleiche nochmal mit den roten Wechselbeuteln für's Laufen. Am Tag zuvor fand hier noch das Briefing statt.
The bike also needed to be dropped-off to the transition area on Saturday. It was only on Saturday morning that I remembered to check my tyres for potential damages like small pieces of glass or stone; never done that before, so now was probably a good time. The front tyre looked good, but it was the back tyre where I found a small glass particle deep into the rubber, which couldn’t be removed. The same tyre also had a small cut on its side that did not look very promising. Was that a serious issue? Would the tyre hold its air for another 180 kilometers? Was I just getting a bit nervous? Normally, I’d not have bothered much. 20 hours before competing in an Ironman is a different situation, though, and I started imagining all different kind of nasty scenarios caused by a damaged tyre during the race. The fact that our hotel room window was directly above a neighbouring bike shop seemed to be an obvious sign, though. So even though that shop seemed to be quite busy fixing everyone’s too late discovered little issues, I decided to get in line for a new tyre. It was 10AM, and there were still six hours left until transition would close. Waiting in line didn’t take long at all and the bike mechanic smartly confirmed my concerns and quickly changed the tyre. I was calmed down, and so was my fear of technical defects during tomorrow’s event.
Nach einem frühen und entspannten Abendbrot am See machten wir an diesem Tag die Schotten schon gegen halb neun dicht; an tiefen Schlaf war jedoch nicht zu denken. In sieben Stunden würde der Wecker so früh klingeln wie während der ganzen Trainingsmonate nicht…
Bild oben: Ein letztes Mal in Ruhe Kalorien tanken beim Abendbrot am See, Samstag vor dem Rennen. Nicht unbedingt die gesündeste Auswahl, aber das war ja noch nie meine Stärke.
Sonntag: Der Wettkampf
3:30 Uhr!
Viel hatte ich wirklich nicht schlafen können in der letzten Nacht vor dem Wettkampf. Tausend Sachen schwirrten durch meinen Kopf – plötzlich fallen einem unheimlich wichtige Dinge ein, die man noch hätte packen können. Sind die Laufschuhe im richtigen Beutel? Ist genug Werkzeug am Fahrrad? Genügt ein einziger Ersatzschlauch? Der Wecker war die Erlösung aus dem grübelnden Halbschlaf, der Wettkampftag brach an – heute würde sich zeigen, ob ich das Zeug zur Langdistanz habe!
Die Logistik des Wettkampfmorgens hatten wir gut durchgetaktet: Die vorbereitete Verpflegung aus dem Kühlschrank holen und in die ebenfalls vorbereiteten Beutel packen. Letzter Vollständigkeits-Check der Schwimmsachen. Triathlonanzug anziehen. Alles ins Auto packen und gegen vier Uhr ans Frühstücksbuffet im Hotel. Das Toastbrot mit Butter und Honig hatte so seine Schwierigkeit, in meinen noch schlafenden Magen zu gelangen, nur der Kaffee half etwas. Draußen war es noch stockfinster als wir ins Auto stiegen um hoffentlich noch einen der besseren Parkplätze in der Nähe der Wechselzonen zu bekommen und nicht auf einen Bus-Shuttle angewiesen sein zu müssen. Die Strategie ging auf; wir schnappten im Dunkeln das Gepäck und liefen nur fünf Minuten bis zur Wechselzone. Die Stimmung war genial – nicht hektisch, eher besonnen, leichte Anspannung, viel Konzentration. Es lief ruhige Musik, der Moderator begrüßte die bereits zahlreich anwesenden und allmählich immer mehr werdenden Athleten. Der große Parkplatz mit seinen 2500 abgestellten Fahrrädern war halbwegs gut ausgeleuchtet, viele Sportler hatten eigene Kopf- oder Taschenlampen dabei.
Bild oben: Konzentration am Morgen. Die Athleten richten final die Wechselzone ein: Reifen aufpumpen, Bremsen kontrollieren, Technik überprüfen. Es ist etwa 5:15 Uhr morgens, anderthalb Stunden vor Rennbeginn.
Ich ging zunächst ins Wechselzelt, um die über Nacht gekühlte Verpflegung in den jeweiligen Beuteln für später zu verstauen. Getränke und Bananen. Anschließend begab ich mich samt Luftpumpe zu meinem Fahrrad. Über Nacht lässt man üblicherweise etwas Luft aus den Reifen, um einen Platzer zu vermeiden – es kommt immer wieder mal vor, dass sich voll aufgepumpte Schläuche auf dem heißen Asphalt am Tag zuvor so sehr erhitzen, dass sie bersten.
Also pumpte ich Vorder- und Hinterrad auf, befestigte ein paar in Alufolie verpackte Käsesandwiches an meinem Rahmen, platzierte die Wasserflaschen und Energieriegel. Glücklicherweise überprüfte ich auch noch mal die Einstellung der Bremsblöcke und justierte diese neu. Mittlerweile erschienen immer mehr Athleten und jeder hatte sein eigenes Vorbereitungsritual. Eine wirklich knisternde Atmosphäre, noch immer war es dunkel. Wer weiß, was jetzt jedem Einzelnen so durch den Kopf ging.
Bild oben: Die Sportler-Karawane von der Wechselzone zum Schwimmstart, etwa 10 Minuten voneinander entfernt. Später am Tag mussten wir diesen Anstieg mehrmals entlanglaufen.
Es folgte das so genannte Body Marking.Startnummern wurden von freiwilligen Helfern mit schwarzen Markern auf beide Arme und das eigene Alter auf eine der beiden Waden geschrieben, während Christina, beste Ein-Personen-Support-Crew der Welt und wettkampferprobtes IronMate, die Luftpumpe zurück zum Auto brachte.
Als es langsam hell wurde, begaben wir uns auf den etwa zehnminütigen Weg zum Schwimmstart, den Strand am Lac Tremblant, zusammen mit tausenden anderen Sportlern und Angehörigen. Unterwegs zog ich mir den Neoprenanzug über, cremte meinen Hals und die Achseln gründlich mit Vaseline gegen die gefürchteten Scheuerstellen ein. Am Seeufer wurde es eng, Unmengen von Menschen verabschiedeten sich vor dem Wettkampf voneinander, wünschten sich Erfolg, Glück, Durchhalteverögen, möglicherweise auch ein strapazierfähiges Verdauungssystem.
Nun war ich auf mich allein gestellt. Ich kämpfte mich vor zum angenehm kühlen Wasser, wo ich noch genug Zeit hatte kurz unterzutauchen und meinen Neo zu fluten. Die Nationalhymne wurde bereits gesungen, die inzwischen ertönende Musik war mittlerweile nicht mehr ruhig, sondern schnell und pumpend, und die Anspannung unter Massen in schwarzen Neopren gekleideter Körper mit neonfarbenen Badekappen wurde spürbar immer größer. Ich reihte mich ein bei meiner angepeilten Zielzeit von 1:20h bis 1:25h, um in wenigen Augenblicken unnötige und oft unangenehme Überholmanöver im Wasser von vornherein möglichst zu vermeiden. Es war jetzt hell, der Blick auf den See klar, aber die Wolken hingen tief über den umliegenden Bergen. Kein Wind, kaum Wellen im Wasser, um die 17 Grad Lufttemperatur. Perfekt für eine Runde schwimmen also!
Bild oben: Guter Dinge vor dem Schwimmstart. Der Neoprenanzug ist halb angezogen. Gut zu erkennen auch die Startnummer auf den Armen. Noch etwa 20 Minuten bis zum Start!
Und dann ging es auch schon los – ein lauter Knall, kurzes Feuerwerk, und die Profi-Männer starteten; unter ihnen auch Lionel Sanders aus Kanada, welcher sich heute mit einem zweiten Platz in der Gesamtwertung für die Ironman-WM qualifizieren würde, wo er es schon im Jahr 2017 zum Vizeweltmeister brachte. Nicht lang danach der nächste Knall, die Profi-Frauen waren unterwegs; unter ihnen wiederum auch Sarah True, vierter Platz auf der letzten Weltmeisterschaft. Nur wenige Minuten später hieß es dann für alle anderen: es gibt kein Zurück mehr – der dritte Knall ertönte und der Ironman Mont-Tremblant 2019 hatte auch für die Altersklasseathleten begonnen; unter ihnen Ludwig Fichte, kompletter Neuling auf der Langdistanz.
Schwimmen: 3,8 Kilometer
Es war soweit! Kurz vor sieben Uhr lief ich ins Wasser, zusammen mit über 2500 anderen Schwimmern, womit für mich meine bisher mit Abstand größte sportliche Herausforderung begann. Ein Mix aus Euphorie, Ungewissheit und Vorfreude überkam mich bei den ersten Schritten in den See, die Situation erschien beinahe surreal. Unzählige Male hatte ich mir Videos von genau diesen Momenten angeschaut, jedesmal eine Gänsehaut bekommen, und jetzt war ich selbst mittendrin – und vor mir 226 lange Kilometer bis zur Ziellinie.
Es wurde ein so genannter Rolling Start organisiert, mittlerweile Standard im Ironman-Triathlon, um das Teilnehmerfeld etwas auseinanderzuziehen – alle paar Sekunden wurden sechs Athleten ins Wasser gelassen. Es wurde dennoch recht wild am Anfang für jemanden der es gewohnt war, im Training eine ganze Bahn im Pool für sich allein zu haben. Ich versuchte ruhig zu bleiben, gleichmäßig zu atmen und nicht zu hektisch loszuschwimmen.
Die leichten Schläge links und rechts von mir ignorierend kam allmählich in meinen Rhythmus. Der Schwimmkurs im Lac Tremblant bestand aus einer einzigen Runde – im Prinzip 1900 Meter in eine Richtung, und dann 1900 Meter wieder zurück. Oder anders gesehen: 166 Bahnen in meinem Stamm-Pool. Nach den ersten etwa 300 Metern kehrte etwas Ruhe ein, ich war froh, dass sowohl meine Schwimmbrille als auch -Kappe noch an ihrem Platz waren. Ab und zu kreuzte mal jemand von vorn oder von hinten meinen Kurs, man bekommt hin und wieder einen Arm auf den Kopf oder die Waden geknallt, oder schwimmt selbst einem anderen Schwimmer ungewollt in die Hüfte – die Sicht unter Wasser war nicht die beste. Es hielt sich aber alles im Rahmen, und ich konzentrierte mich auf meinen Armschlag; nicht zu kräftig, aber gleichmäßig, nicht zu viel Beineinsatz, aber genug, um eine stabile Lage zu behalten. Immer schön aktiv rotieren, aller 5-10 Armzüge die Richtung kontrollieren. Der Kurs wurde mit großen schwimmenden Bojen markiert, jede einzelne nummeriert und selbst für mich blinden Fisch einigermaßen gut erkennbar. Ich wusste, dass es 12 orangene Bojen in die eine und 14 gelbe in die andere Richtung sein würden; außerdem vibrierte meine Uhr aller 500 Meter, sodass ich jederzeit ganz gut einschätzen konnte, wie viel Wasser ich noch vor oder schon hinter mir hatte. Die Strecke wurde zumindest auf dem Rückweg auch von einigen Helfern in Kayaks flankiert, was mir als zusätzliche Orientierung und Sicherheitsreiz ganz willkommen war.
Bild oben: Der Startschuss zum 8. Ironman Mont-Tremblant! Innerhalb der folgenden 15 Minuten stürzten sich 2500 Athleten in den bis dahin sehr ruhigen Lac Tremblant.
Nach knapp der Hälfte erreichte ich den ersten von zwei 90-Grad Wendepunkten an denen es naturgemäß hektisch wurde – plötzlich waren wieder dutzende Schwimmer um mich herum, jeder energisch seine Position verteidigend und die Ideallinie anstrebend. Arme und Beine wohin man blickte. Ruhig bleiben, dachte ich mir, nicht beirren lassen, weiterkraulen. Der zweite Wendepunkt bald darauf ebenfalls geschafft und somit auch die Hälfte der Schwimmstrecke. Ich fühlte mich gut, die Brille hielt dicht, kein Wasser in den Ohren, kein Anzeichen von Krämpfen in den Waden, und auch der Neoprenanzug saß besser als in meinen Trainingseinheiten, schürfte nicht am Hals und schränkte meine Armstreckung nicht ein wie normalerweise. Ich hielt mein Tempo, aber nach etwa 2.5 Kilometern im Wasser freute ich mich auch auf das Ende der ersten Disziplin. Ich arbeitete mich geduldig von Boje zu Boje, bis ich schließlich in der Ferne das Ziel mehr erahnte als erblickte, aber zumindest die Zuschauer, die Musik und den Moderator hören konnte. Wow, was für ein Gefühl! Den ersten Teil fast geschafft, meine frühere Angstdisziplin bewältigt, fast vier Kilometer am Stück gekrault! Ich erinnerte mich an meine ersten Kraulversuche vor etwa fünf Jahren; keine zehn Züge war ich in der Lage Freestyle zu schwimmen, nach nichteinmal 15 Metern war ich regelmäßig vollkommen außer Atem. Über Monate erlernte ich mühsam das Schwimmen quasi neu, langsam aber stetig steigerte ich die Distanzen. Diese Gedanken gaben mir einen guten Schub, ich erhöhte meine Frequenz und intensivierte den Beinschlag, um mein Blut wieder etwas in Zirkulation zu bringen und zu vermeiden, beim plötzlichen Wechsel zurück in die Vertikale nicht direkt wieder umzufallen. Die Strategie ging auf, und ich kam nach einer Stunde und vierzehn Minuten gut gelaunt und schmerzfrei aus dem Wasser. Neben unzähligen Schaulustigen waren auch zahlreiche Helfer am Ufer, die uns Schwimmern dabei unterstützten, uns aus den Neos zu schälen – extrem hilfreich (und lustig anzusehen). Mit dem Wetsuit im Arm lief ich in die Wechselzone und konnte es immer noch nicht fassen, das Schwimmen so reibungslos bewältigt zu haben. Ich war endgültig im Wettkampf angekommen; der zeit- und streckenmäßige Mammutanteil lag allerdings noch vor mir!
Wechselzone 1: Schwimmen // Rad fahren
Im Wechselzelt schnappte ich mir meinen blauen Wechselbeutel und suchte mir einen Platz im mit viel zu vielen Menschen gefüllten Zelt – als durchschnittlicher Schwimmer ist man eben nicht der einzige in der Wechselzone. Zunächst setzte ich mich kurz hin und atmete durch. Nur nicht zu hektisch werden – die nächsten sechs bis sieben Stunden würde ich auf dem Fahrrad verbringen; da wäre es nicht nur ungünstig, jetzt etwas zu vergessen, sondern auch unnötig, wegen ein paar Minuten Zeitersparnis irgendetwas zu überstürzen. Also, das Ritual abarbeiten, wie ich es zuvor dutzende Male im Kopf durchgegangen bin: Noch ein zweites Mal durchatmen. Etwas trinken. Helm und Sonnenbrille aufsetzen. Sonnencreme auftragen. Sitzcreme möglichst großzügig an den sensiblen Stellen verteilen. Füße abtrocknen und in die Radschuhe schlüpfen. Radhandschuhe überstülpen. Neoprenanzug, Schwimmbrille und -kappe zurück in den Wechselbeutel legen. Eigentlich wollte ich auch noch eine zweite Radhose als Extra-Polster anziehen aber die war verschwunden; musste also auch so gehen. Ich hätte wahrlich wichtigere Dinge zu Hause vergessen können.
Bild oben: Die Sachen noch durchnässt vom Schwimmen aber mit nach wie vor guter Laune aus dem Wechselzelt hin zum Fahrrad. Jetzt lagen viele Stunden im Sattel vor mir.
Davon etwas durcheinandergebracht und mein gut durchdachtes Ritual ignorierend schnappte ich mir auf dem Weg aus dem Wechselzelt noch eine Banane und verschlang sie viel zu schnell – in dem Moment war mir allerdings noch nicht klar, dass ich das die kommenden vier Stunden lang bereuen würde…
Ich lief zu meinem Rennrad, schaltete den Wahoo-Radcomputer ein, und verließ die erste Wechselzone nach etwas unter 15 Minuten.
Rad fahren: 180 Kilometer
Das Wetter war perfekt. Etwa um die 18 Grad, bewölkter Himmel, kein Regen und immer noch kaum Wind. Einer schönen Radtour stand eigentlich nichts im Wege! Guter Dinge trat ich in die Pedale, nicht zu kräftig, um erstmal aus dem gröbsten Verkehr rauszukommen. Die ersten Kilometer waren hügelig, die Fahrbahn nicht besonders breit, aber die Fahrraddichte sehr hoch! Also Konzentration und die Sache langsam angehen. Eine Regel im Langdistanz-Triathlon besagt, dass man nicht im Windschatten anderer Radler fahren darf – also mindestens zwölf Meter Abstand zum Vordermann halten muss und im Falle eines Überholvorgangs maximal 25 Sekunden dafür Zeit hat. Ein Ding der Unmöglichkeit bei so vielen Radfahrern besonders im ersten Teil der Strecke; hunderte Athleten waren direkt vor und hinter mir. Ich hatte gehört, dass die Windschattenregel in Mont-Tremblant erfahrungsgemäß recht streng überwacht wird (durch offizielle Schiedsrichter auf Motor- aber auch „undercover“ auf eigenen Rennrädern unter allen anderen Radlern), also sollte ich mich im weiteren Verlauf des Rennens so gut es ging daran halten. Wird ein Verstoß festgestellt, muss man mit einer Zeitstrafe von fünf Minuten rechnen. Bei mehreren solcher Verwarnungen droht die Disqualifikation.
Bild oben: Rein optisch ist die Strecke in Mont-Tremblant sehr reizvoll. Und unter diesen Wetterbedingungen auch schattig genug.
Muskulär, kardiovaskulär und mental fühlte ich mich von Beginn an sehr wohl auf meinem geliebten Cucuma-Gefährt aus Darmstadt, und ich achtete darauf, auch bei Anstiegen mit nicht viel mehr als 200 Watt in die Pedale zu treten (im Vergleich: der Favorit, Lionel Sanders, tritt 300 Watt im Durchschnitt!). Recht schnell bemerkte ich jedoch, dass mein Magen heute keine Lust auf Sport zu haben schien – oder mir schlichtweg das schnelle Verschlingen der Wechselzonen-Banane gefolgt von einer hastigen Flasche Powerade übel nahm. Unangenehme wenn auch nicht unausstehliche Magenkrämpfe machten sich bemerkbar und ich musste sofort an das Schicksal eines Triathlonfreundes denken, der seine letzte Langdistanz wegen genau solcher Symptome abgebrochen hatte. Mich plagten derartige Probleme noch nie – aber wie mein Trainer Alan mehr als nur ein Mal prophezeite: irgendetwas Unvorhergesehenes wirdpassieren. Nimm es hin, bleibe ruhig. Okay. Ruhig bleiben. Weitertreten. Im Training hatte ich schon unangenehmere Beschwerden ausgehalten. Aber würde mein Magen im derzeitigen Zustand die kohlenhydratlastige Nahrung überhaupt annehmen, geschweige denn vertragen? Meine Ernährungsstrategie für den restlichen Teil des Rennens (und somit für mindestens zehn weitere Stunden) bestand im Prinzip aus konzentrierter Zuckerlösung mit Elektrolyten (der Marke Tailwind), Energieriegel, und ab und zu mal ein Käsesandwich. Aber es half alles nichts – so lange die Krämpfe nicht schlimmer wurden würde ich damit leben müssen und darauf achten, alle übrigen Kalorien nicht zu hastig einzunehmen. So strampelte ich also weiter und konzentrierte mich auf andere Dinge.
Auf den ersten zehn Kilometern der ersten von zwei Runden ging es über insgesamt drei leichte Hügel in Richtung Südwesten, entlang der Montee Ryan. Anschließend bogen wir nach Norden ab auf den Highway 117; letztendlich eine Autobahn, gesperrt für uns Triathleten! Für kanadische Verhältnisse ausgezeichneter Asphalt, genug Platz, technisch nicht besonders anspruchsvoll, und gute Sicht nach vorn – was will man mehr! Die kommenden Kilometer ging es leicht aber stetig bergauf, bis es zur ersten großen Abfahrt kam: etwa einen Kilometer schnurgeradeaus und steil bergab; mit über 70km/h ins Tal. Naja, und dann auf der anderen Seite wieder hoch.
Bild oben: Schnelle Abfahrt vor einer Kurve - willkommener Grund, die Aero-Position zu verlassen um den Rücken etwas entspannen zu können. In der Aero-Position kann man die Bremsen nicht bedienen und hat in engen Kurven viel weniger Kontrolle über sein Rad.
Die Zeit auf dem Highway verging schnell. Alle 18 Kilometer gab es Verpflegungsstationen, an denen ich im Vorbeifahren jeweils eine leere gegen eine volle Wasserflasche tauschte. Ich nippte fleißig (aber sorgfältig) an meinem Zuckerwasser, und aß zwei Energieriegel in den ersten zwei Stunden. Die Magenkrämpfe blieben, aber wurden zumindest nicht schlimmer. Die erste Härteprüfung des Wettkampfes folgte dann nach etwa 75 Kilometern – der wirklich bergige Teil begann. Die Chemin DuplessisDuplessis ist ein für Radfahrer wirklich unangenehmer Streckenabschnitt. Auf knapp zehn Kilometern geht es tendenziell bergauf, mit immer wieder starken kurzen Anstiegen mit bis zu 14% Steigung. Sehr zermürbend, man findet keinen Rhythmus. Und weiß, dass man etwa drei Stunden später nochmal dort hinauf muss. Ich versuchte auch hier, möglichst nicht zu viel Kraft zu verschwenden und dabei viel zu trinken. Wo es hinauf geht, geht es auch wieder hinunter, und die Abfahrt nutzte ich zur aktiven Regeneration meiner Beine. Am Ende der ersten Runde hatte ich eine Durchschnittsgeschwindigkeit von etwas über 30km/h – eine ganz gute Ausgangsposition für die noch fehlenden 90 Kilometer und angesichts des Höhenprofils auch sehr zufriedenstellend.
Die zweite Runde war ungleich härter als die erste, sowohl mental als auch körperlich. Zwar begann sie mit einem kurzen Mini-Stopp bei den so genannten Special Needs Bags, in welchen ich mir etwas zusätzliche Nahrung und eine weitere Flasche Zuckerwasser bereitgelegt hatte. An der Station hielt ich also kurz an, mir wurde innerhalb weniger Sekunden mein Beutel gebracht, ich nahm mir zwei vorbereitete Käsesandwiches heraus und füllte mein Getränk um. Nach weniger als zwei Minuten war die Prozedur beendet und ich saß wieder strampelnd im Sattel. Es wurde jedoch wärmer, und gleichzeitig frischte der Wind merklich auf. Gefühlt natürlich ständig Gegenwind, vollkommen unabhängig davon in welche Richtung wir fuhren. Der Magen rebellierte nach wie vor im Hintergrund, und allmählich bereute ich auch, die zweite Radhose nicht gefunden zu haben. Doch selbst nach knapp vier Stunden und etwas mehr als hundert Kilometern im Sattel war zumindest meine Laune noch gut. Immer noch war es ein surreales Gefühl, tatsächlich an diesem Rennen teilzunehmen. Das Feld der Athleten hatte sich mittlerweile weit auseinandergezogen. Gern hätte ich mich mit dem ein oder anderen Radler unterhalten um die Zeit zu vertreiben, aber auch das wäre ein Regelverstoß gewesen. Triathlon ist zumindest im Wettkampf ein reiner Einzelsport. Also beschränkte ich meine Konversation auf ein “On your left”vorm Überholen oder das “Thank you”gegenüber den Helfern an den Verpflegungsstationen. Um seinen Müll loszuwerden (zum Beispiel leere Wasserflaschen oder Verpackungen von Energieriegeln) waren an diesen Stationen kanadatypisch Hockeytore aufgestellt, was ebenfalls für ein bisschen Ablenkung zumindest aller besagter 18 Kilometer sorgte.
Bild oben: Die Radstrecke des Ironman Mont-Tremblant. Zwei Runden mussten gefahren werden, zu jeweils 90 Kilometern. Insgesamt bedeutete das etwa 1800 Höhenmeter.
Nach 137 Kilometern hatte ich eine Strecke erreicht, die ich im Training bisher noch nie gefahren bin, und somit rennradlerisches Neuland. Meine Beine wurden allmählich müde, mein Nacken begann zu schmerzen, naja und an den Zustand meines Magens hatte ich mich ja bereits gewöhnt. 40 Kilometer galt es noch zu strampeln. Und dann war da ja noch das zweite Mal Chemin Duplessis… 20 Kilometer vor Schluss also nochmal zusammenreißen und die letzten der insgesamt etwa 1800 Höhenmeter auf der Radstrecke bewältigen. Dies gestaltete sich erwartungsgemäß um ein Vielfaches anstrengender als in der ersten Runde. Und es war gefühlt so viel weiter! Je näher ich jedoch dem letzten Wendepunkt kam, desto größer wurde die Erleichterung, diesen riesigen Abschnitt des Wettkampfes ohne technischen Defekt, ohne Platten, ohne Sturz und ohne Magenkomplettrebellion so gut wie geschafft zu haben! Nach etwas über sechs Stunden stieg ich schließlich vom Sattel, euphorisch wie zu Beginn des Abschnitts, die Krämpfe in der Bauchgegend waren zumindest zeitweilig sogar verschwunden. Die Stimmung war grandios, Musik, so viele Menschen, so viele Sportler! In der Menge entdeckte ich Christina, die mich auch schon auf der Radstrecke mehrmals enthusiastisch angefeuert hatte – das gab nochmal einen weiteren Motivationsschub bevor ich zum zweiten Mal im Wechselzelt verschwand.
Bild oben: 180 Kilometer waren geschafft! Man glaubt es kaum, aber tatsächlich empfand ich eine Art Vorfreude aufs Laufen; nach über sechs Stunden im Sattel will man alles, nur nicht mehr sitzen.
Wechselzone 2: Rad fahren // laufen
Diesmal hatte ich etwas mehr Platz im Zelt. Auf einer so langen Radstrecke über so viel Zeit verteilen sich die Athleten deutlich besser als beim Schwimmen. Ich suchte meinen zweiten Wechselbeutel, dann einen freien Sitzplatz im Umkleidebereich und atmete wieder erstmal durch. Dann raus aus den Radschuhen. Helm absetzen. Handschuhe ausziehen. Socken wechseln und Laufschuhe anziehen. Die Startnummer anlegen. Eine weitere Schicht Sonnencreme auftragen. Mein Magen fühlte sich ganz gut an, mein Puls war erstaunlich niedrig. Ich war nicht vollkommen erschöpft, so wie ich das im Training manchmal nach bereits der Hälfte der heutigen Strecke gewesen bin. Da scheine ich mich auf dem Rad zumindest mal nicht komplett falsch verhalten zu haben. Aber Moment – jetzt noch einen ganzen Marathon laufen? Nach mittlerweile weit über sieben Stunden Ausdauersport? Das erschien mir zu diesem Zeitpunkt vollkommen unmöglich. Beinahe unmöglicher als noch damals, bevor ich selbst überhaupt erst zum Triathleten wurde. Drei Marathons bin ich in den vergangenen Jahren bereits gelaufen, den letzten vor gerade mal zwei Monaten; und das tat weh, war extrem anstrengend; dabei war ich an der Startlinie ausgeschlafen und fit, ich hatte weder drei Liter Zuckerwasser im Körper noch 180 Radkilometer in den Beinen. Aber gut – nun war ich hier, lag nicht am Boden, konnte aufrecht gehen, und hatte viel Geld für den ganzen Spaß bezahlt; genug Gründe also, all die Zweifel auf die Probe zu stellen und zu sehen, was passiert! Nach den guten ersten beiden Disziplinen jedenfalls war die Zeit auf meiner Seite. Nach etwas über zehn Minuten verließ ich das Wechselzelt wieder (ließ die eingeplante Banane diesmal allerdings aus Rücksicht auf mein Verdauungssystem im Wechselbeutel liegen) und begab mich im leichten Galopp hinaus auf die Laufstrecke. Auf geht's!
Laufen: 42,2 Kilometer
Gleich am Anfang entdeckte ich schon wieder Christina – sie war überall und feuerte mich an! Ich bekam einen erneuten Schub, aber die Beine fühlten sich etwas komisch an. Alles recht schwerfällig, obwohl mein Tempo mit etwa 5:37min/km gar nicht übel war und mir nur viel langsamer vorkam. Das kannte ich aus dem Training – laufen nach dem Rad fahren ist eigenartig, aber irgendwann wird es besser. Einfach weiter traben ohne gleich zu schnell zu werden. Ich hatte keine Ahnung wie spät es zu Beginn des Marathons war, aber ich wusste, dass ich noch mehr als genug Zeit hatte, bis um Punkt Mitternacht die Ziellinie gnadenlos schließen würde. Es war noch mitten am Tag, und viel später als halb drei konnte es eigentlich nicht sein. Wohl vermutend, dass irgendwann im weiteren Verlauf des Rennens Schluss sein würde mit guter Laune, Tatendrang und Energie, blieb ich in Bewegung und genoss die Stimmung so lange es noch ging.
Bild oben: Der Beginn eines Marathons, ca. 7,5 Stunden nach Wettkampfbeginn. 150 Kalorien in der Hand, und 1000 Kalorien auf dem Rücken. Am Ende würde ich nicht mal die Hälfte davon verzehren.
Die ersten Kilometer waren hart. Es ging einige verhältnismäßig steile Anstiege hinauf und hinunter, bevor sich die Strecke nach etwa sechs Kilometern abflachte und schattig im Wald entlanglief auf dem Le P’Tit Train du Nord. Maximal aller zwei Kilometer waren Verpflegungsstationen eingerichtet – Eiswürfel, Wasser, Elektrolytdrinks, Bananen, Energy-Gels. Nicht zu vergessen die unzähligen freiwilligen Helfer, die uns Athleten nicht nur mit Nahrung, sondern auch lautstark und freundlich mit frischer Motivation und Mut versorgten. Zwischen Kilometer 6 und 14 lief alles bestens. Ich kam voran, war mit meinem Tempo von mittlerweile 5:45min/km sehr zufrieden. Sicherlich war es anstrengend, aber ich konnte noch das Publikum anlächeln, mich im Vorbeilaufen bei den Helfern bedanken, und anderen, langsameren Sportlern aufmunternd zureden. Ein paar Kilometer nach dem ersten Wendepunkt jedoch wurde es allmählich härter. Die Energiereserven neigten sich merklich dem Ende, und ich musste immer häufiger Gehpausen einlegen. An jeder Verpflegungsstation versuchte ich genug Wasser und Cola zu trinken und mich mit Eis abzukühlen. Mein Magen meldete sich erneut, rebellierte leicht gegen das Zuckerwasser, was ich ihm nach wie vor in regelmäßigen Abständen zuführte.
Gegen Ende der ersten Runde ging es wieder die Hügel vom Anfang hinauf und hinunter, zurück in das Veranstaltungsdorf. Immer noch konnte ich lächeln und versuchte auch stets wieder das Tempo zu halten. Inzwischen war ich bei einem Temposchnitt von etwa 5:55min/km angelangt. Bei Kilometer 22, Mitten im Städtchen, dann der härteste, wenn gleichzeitig auch am meisten motivierende Teil: Die Strecke gabelte sich nach links, zum Zieleinlauf, und nach rechts, für die zweite Runde. Hunderte, oder gar tausende Schaulustige machten Lärm und ließen mich nur ahnen, wie es sich 20 Kilometer später links-abbiegend anfühlen würde. Aber das hieß auch, dass ich eben nochmal die komplette Runde laufen müsste. Inklusive Hügel.
Bild oben: Bei Kilometer 21 und 41 wurden auf einer großen Leinwand fünfsekündige Videos abgespielt, die vorher von Angehören der Sportler aufgezeichnet werden konnten. Sehr coole Idee und ein willkommener Motivationsschub auf der halben Strecke. Mein IronMate Christina ist die beste Support-Crew, die man sich vorstellen kann! Hier gibt's das Video in voller Kürze..
Zunächst jedoch ging es erstmal bergab, wieder heraus aus dem Dorf, ein Stück am See entlang. Ich traf Christina erneut, zum wohl zehnten Mal schon, und hielt kurz inne. Sie gab mir Mut, dass ich sehr gut in der Zeit läge, und sie hatte Recht – ich war auf 12-Stunden-Kurs; allerdings nur, wenn ich in etwa das Tempo der ersten Runde auch in der zweiten halten würde, was mir zu diesem Moment unmöglich vorkam. Zwar fühlte ich mich noch um einiges besser als im letzten Drittel meiner bisherigen Marathons, aber ich hatte ja auch noch knapp 20 Kilometer vor mir. Irgendwann, dachte ich mir, würde der Hammer kommen und mich gnadenlos zu Boden zwingen. Aber noch war es nicht so weit, und ich rannte weiter. Christina begleitete mich ein Stück, doch bald war ich wieder auf mich allein gestellt; und auf die nach wie vor unglaublich motivierenden Zuschauer am Rande des Großteils der Strecke.
Bild oben: Zu Beginn der zweiten Runde lief alles etwas langsamer. Die Beine wurden schwer und ein weiterer Halbmarathon schien zu diesem Zeitpunkt ein bisschen unrealistisch.
Die Hügel hatte ich nun zum dritten Mal so gut wie überwunden und war zurück auf dem zehn Kilometer langen, schattigen Waldstück. Meine Geh-Pausen wurden länger und ich begann mich immer wieder mit anderen temporär gehenden Athleten zu unterhalten, um erfolgreich für etwas beidseitige Ablenkung zu sorgen. Dabei traf ich Brian, der ebenfalls seinen ersten Ironman-Versuch machte, sowie eine ältere in der Schweiz geborene Dame aus Vancouver, welche zwar noch auf der ersten Runde unterwegs war aber dafür froh, ein paar Worte in deutscher Sprache wechseln zu können. Im Vorbeigehen dankte ich all den Helfern für die großartige Unterstützung, wohl wissend, dass sie heute noch einen weitaus längeren Tag haben würden als die meisten Läufer auf der Strecke. Kommunikation war ein guter Zeitvertreib und half dabei, die eigene gute Stimmung aufrecht zu erhalten. Allerdings nicht jedem: Ich sah einige Sportler, denen es ganz augenscheinlich viel schlechter ging als mir, deren Mägen die Verpflegung mehr oder weniger offensichtlich nicht vertrugen, und einige, die schon aufgeben mussten und am Boden liegend von Rettungskräften versorgt wurden. Kilometer 29. Jetzt musste es bald vorbei sein mit der guten Laune, dachte ich mir. Ich erinnere mich widerwillig, dass die letzten acht Kilometer meiner bisherigen Marathons jedesmal eine schmerzvolle Qual waren. Wann würde es heute soweit sein? Am letzten Wendepunkt nahm ich noch zwei Schlucke Cola und lief wieder los. Kilometer 32. Jetzt quasi nur noch einen Zehner! Plötzlich setzte so etwas wie erneute Euphorie ein – das Laufen fühlte sich nicht mehr so schwer an und ich sammelte unzählige langsamere Läufer ein. Ich passierte die Verpflegungsstationen im Laufschritt, musste nicht einmal mehr an den Hügeln zum Gehen wechseln. Ich konnte es nicht fassen, aber meine Beine trugen mich immer weiter, meine Geschwindigkeit wurde wieder höher. Die Anstiege waren geschafft! Noch vier Kilometer bis ins Dorf. Es wurden immer mehr Leute am Straßenrand und in der Ferne konnte ich bereits die pulsierende Musik im Zielkanal hören. Ich wusste, ich würde es schaffen und ich wusste, ich würde es gut gelaunt schaffen! Noch zwei Kilometer. Es ging nochmal bergauf durch das Dorf, aber von Gehpausen wollte ich jetzt nichts mehr wissen! Es lief wie von allein. Die letzte Verpflegungsstation ließ ich links liegen, meine Schritte wurden größer.
Der Zieleinlauf
Unfassbar, nur noch ein Kilometer vor mir, die Musik war jetzt zum Greifen nah, wurde immer lauter, die Partystimmung bereits hier voll im Gange. Wie oft habe ich mir in den vergangenen Monaten genau diesen Moment vorgestellt – kurz vor dem Zieleinlauf, nach stundenlangen Strapazen, die letzten paar hundert Meter genießen. Und ich genoss sie. Es ging leicht bergab, in einer engen Gasse vorbei an hunderten jubelnden Menschen auf beiden Seiten. Hände streckten sich mir zum Abklatschen entgegen, laute Stimmen riefen abwechselnd meinen Namen oder meine Startnummer. Ich war wahrlich nicht der erste, aber eben so fühlte es sich an. Kurve nach rechts, ich versuchte etwas langsamer zu werden um den Moment zu konservieren, Kurve nach links. Und da war er, der seit Jahren ersehnte Zieleinlauf eines Langdistanz-Triathlons. Noch zwanzig Meter. Ich riss meine Arme nach oben, während ich inmitten der lauten Stimmung Mike Reilly, Triathlon-Ikone, sogar einigermaßen korrekt meinen Namen moderieren hörte, gefolgt von den magischen vier Worten des Triathlonsports:
„You – are – an – IRONMAN!“
Video above: Der Zieleinlauf genau 12 Stunden und 6 Minuten nach meinem Start. Alle Zweifel verflogen, alle Schmerzen vergessen.
Nach dem Rennen
Ich hatte es geschafft! Seit 16 Stunden wach, 226km und 2100 Höhenmeter zurückgelegt und in zwölf Stunden und sechs Minuten meinen ersten Ironman-Wettkampf erfolgreich beendet. Jahrelanges Training gipfelten in genau diesem magischen Moment. All die Strapazen der harten Trainingseinheiten und auch die des sich dem Ende neigenden Tages waren es genauso wert wie jetzt vergessen. Im Adrenalin- und Endorphinrausch bekam ich meine Medaille, wurde in Richtung Finisher-Zelt geführt, nahm mein T-Shirt und Basecap entgegen, und suchte mir einen Platz zwischen all den anderen Athleten im Zelt. Keinerlei Schmerzen machten sich bemerkbar, stattdessen ein Dauergrinsen im Gesicht, wahnsinnige Erleichterung und Fassungslosigkeit. Ich erinnerte mich an die letzten Tipps meines Trainers, als er sagte, nach dem Zieleinlauf solle ich möglichst sofort etwas essen. Mein Magen krampfte zwar nicht mehr, aber nach Nahrungsaufnahme war mir gar nicht zumute – unmittelbar nach einem Wettkampf bekam ich noch nie viel runter. Ein paar Nudeln nahm ich zu mir, und heißen Tee. Zurückblickend auf meine Marathon-Finishes in Frankfurt, Berlin und auch in Ottawa, habe ich mich direkt nach den Läufen viel schlechter gefühlt als jetzt, obwohl ich zumindest bei den ersten beiden gar nicht so viel schneller war als heute. Lag das an der intensiveren Vorbereitung? Oder an einer besseren Verpflegungsstrategie? Oder gar an der höheren Adrenalindosis? In dem Moment jedenfalls war es mir egal – ich war froh, mich so gut zu fühlen, konnte ich so doch die Zeit unmittelbar nach dem Rennen in vollen Zügen genießen und die Atmosphäre einer interessanten Mischung aus Euphorie und Erschöpfung hunderter frisch-gebackener Eisenmänner und -frauen aufsaugen.
Bild oben: Je später und dunkler es wurde, desto besser wurde die Stimmung. Athleten mit Zeiten um die 14-17 Stunden wurden durch besonders euphorisches Publikum belohnt und von Mike Reilly an der Ziellinie persönlich abgeklatscht.
Nachdem ich mich gestärkt, mein Fahrrad abgeholt, die ganzen Wechselbeutel wieder eingesammelt und zurück zum Auto gebracht sowie meine durchnässte gegen frische Kleidung getauscht hatte, verbrachten Christina und ich den verbleibenden Abend damit, die restlichen Läufer über die Ziellinie zu jubeln. Je später es wurde, desto grandioser die Atmosphäre. Jeder einzelne Athlet wurde von einem immer größer werdenden Publikum gefeiert, als wäre er oder sie der Sieger des Tages. Mike Reilley machte Stimmung und wurde nicht müde, jeden Einzelnen beim Namen und einen Ironman.
nennen. Unglaublich, mittlerweile waren über 16 Stunden vergangen, und noch immer befanden sich Sportler auf der Strecke. Was für eine Ausdauer. Einige von ihnen kämpften sich sehr offensichtlich mit aller letzter Kraft über die Ziellinie. Die letzte Athletin traf 40 Sekunden vor Mitternacht ein und der Wettkampftag wurde mit einem gemeinsamen Countdown und anschließendem Feuerwerk offiziell beendet.
Video oben: Eine kurze Zusammenstellung Christinas Videos meines Rennens vom Start bis zur Ziellinie.
Montag: Der Tag danach
Kein Wecker heute, und trotzdem wachte ich früh auf. Das Einschlafen viel mir sehr schwer, vollkommen aufgekratzt war ich gestern Nacht. Tausend Dinge gingen mir durch den Kopf, wie unter Drogen habe ich selbst nach fast 24 Stunden ohne Schlaf und davon die Hälfte unter körperlicher Anstrengung kaum die Augen zu bekommen. Zwölf Stunden nach meinem Zieleinlauf jedoch war das Adrenalin wohl abgebaut – die Innenseite meines linken Knies begann zu schmerzen, und plötzlich konnte ich nicht mehr so unbeschwert gehen wie noch gestern Abend. Interessanterweise hatte ich muskulär nach wie vor keinerlei Beschwerden, aber die Bänder meldeten sich um so mehr. Gewundert hatte mich das natürlich nicht, und solange nur die linke Seite betroffen war, würde ich unseren Automatik auch noch nach Hause gesteuert bekommen.
Bild oben: Letzter Tag im Ironman-Village. Für eine Qualifikation zur Weltmeisterschaft in Kona auf Hawaii hätte mein Ergebnis dieses Jahr aber selbst dann nicht gereicht, wenn ich in den Sechzigern geboren wäre...
Nach dem letzten Frühstück in unserem Hotel fuhren wir auch noch ein letztes Mal ins Ironman-Village. Dort fand heute die Siegerehrung statt, gefolgt von der Vergabe der 40 Qualifikationsplätze für die Ironman-Weltmeisterschaft in Kailua-Konaauf Hawaii im Oktober dieses Jahres. In jeder Altersklasse konnten sich zwischen 1 und 5 Athleten qualifizieren, je nach Gesamtzahl der in der entsprechenden Klasse angetretenen Sportler. Wird man aufgerufen, muss man an Ort und Stelle verbindlich entscheiden, ob man nach Hawaii will, und natürlich auch direkt bezahlen (so um die 1000 Euro Teilnahmegebühr). Nimmt man seinen Slot nicht an, bekommt automatisch der Nächstbeste die Chance. So geht das dann immer weiter, bis alle Plätze vergeben sind. Mit meiner Zielzeit von etwas über 12 Stunden befand ich mich auf dem 92. Platz meiner Altersklasse und lief damit nicht Gefahr, in die Verlegenheit dieser Entscheidung zu kommen - diese Zeit hätte erstaunlicher- und beeindruckenderweise nicht einmal bei den Über-Fünfzigjährigen für eine WM-Qualifikation gereicht. Das Spektakel mit anzusehen jedoch war großartig. In einigen Altersklassen bekamen Sportler als Sechstplatzierte einen Slot für Kona, obwohl eigentlich nur zwei Qualiplätze vorgesehen waren. Entsprechend riesig war die Freude der betroffenen Personen.
Das letzte offizielle Spektakel des Wochenendes war schließlich nach gut zwei Stunden vorbei. Geschafft, zufrieden und stolz verließen wir Mont-Tremblant nach fünf unglaublich erlebnisreichen und unvergesslichen Tagen.
Bild oben: Einer von etwas über 2200 Finishern des Ironman Mont-Tremblant 2019. Und einer von etwa 550 Ersttätern.
Das vergangene Wochenende war mit Sicherheit eines meiner erlebnisreichsten. Bleibt die Frage: Was kommt als nächstes? Dass ich Spaß an Triathlon habe ist unbestritten, aber ob ich für die Langdistanz gemacht war? Zumindest beim Laufen hatte ich da aufgrund meiner bisherigen Marathonerfahrungen eher Zweifel. Nach den vergangenen fünf Tagen aber sind diese beseitigt - und das lasse ich mal wertfrei so stehen... Das Training für Wettkämpfe dieser Art ist extrem zeitaufwendig. Woche für Woche 13-18 Stunden trainieren ist neben der Arbeit und dem Familienleben eine große Herausforderung. Ohne die andauernde mentale und logistische Unterstützung meiner geliebten Ehefrau hätte ich die Ziellinie am Sonntag bestimmt nicht erreicht; nicht zuletzt durch Christinas eindrucksvollen und so hilfreichen Einsatz am Sonntag selbst: helfen beim Packen und Nahrung zubereiten, beruhigen, Material durch die Gegend schleppen und Sachen besorgen, die ich vergesse, mich an 13 Stellen im Rennen anfeuern, Fotos und Videos machen und Vieles mehr.
Definitiv bleibe ich in der Sportart, und definitiv werde ich auch weiterhin an Wettkämpfen unterschiedlicher Art teilnehmen. Sehr gern würde ich auch im nächsten Jahr wieder eine Langdistanz angehen, aber das bedarf wohl noch gewisser Abstimmungen.
Bis dahin hier noch ein paar mehr oder weniger interessante Fakten und Zahlen zu meinem Rennen und dem Weg dorthin.
Einzelzeiten der Disziplinen:
3,8km Schwimmen: 1h14min | Wechselzone 1: 14min | 180km Rad fahren: 6h7min | Wechselzone 2: 11min | Running 42,2km: 4h20min | Gesamtzeit für226km: 12h6min
Nahrungsaufnahme am Wettkampftag:
Flüssigkeit: 11,2 Liter | Kalorien verbraucht: 7500 | Kalorien aufgenommen: 5600 | Davon aus Kohlenhydraten: 1100g (78% der Gesamtkalorien)
Trainingsaufwand der spezifischen Wettkampfvorbereitung:
Konkrete Trainingsdauer: 33 Wochen | Stunden pro Woche: 12 | Anzahl aller Radeinheiten über 100 km: 5 |Längstes Radtraining: 137km | Anzahl aller Laufeinheiten über 30 km: 5| Trainingskilometer gesamt: 6521 | Trainingszeit gesamt: 400h (davon 46% outdoors)
Nahrungsaufnahme der Wettkampfvorbereitung:
Flüssigkeit gesamt: 1133 Liter | Durchschnittlicher Kalorienbedarf pro Tag: 3200 | Alkoholkonsum gesamt:2 kleine Bier
Bild oben: Der spezifische Trainingsaufwand in den letzten 33 Wochen bis zum Ironman. Hauptfokus lag natürlich auf dem Radtraining. Am Ende der letzten Woche stand der Wettkampf.
Nach all dem Training werden die kommen Tage zunächst ruhig angegangen. Leichte und kurze Einheiten zur Regeneration. Sicherlich werde ich dieses Jahr noch den ein oder anderen Laufwettkampf bestreiten, vielleicht mal wieder ein paar Trails laufen. An dieser Stelle jedenfalls erst einmal herzlichen Dank für das Interesse und die Geduld bis hierhin durchzuhalten. Als frischgebackener Langdistanztriathlet kann man sich leider nicht mehr kurzhalten.
Viele Grüße und bis bald,
Ludwig.
Ironman.
Mehr zu lesen:
Rennbericht Early Bird Triathlon, Frühling 2019
Rennbericht Ironman 70.3 Kraichgau, Sommer 2018
Bericht über das Istriabike Triathloncamp, Frühling 2018
Lieber Ludwig, herzlichen Glückwunsch zu dieser tollen Leistung! Was für ein Erlebnis!! Deine Zielstrebigkeit und Disziplin finde ich wahnsinnig beeindruckend. Und ich fand deinen Bericht auch sehr spannend zu lesen, fand es schade, als er dann zuende war…
Ich schicke euch viele liebe Grüße ins Ferne Kanada, genießt den Rest des Sommers, der bei euch ja wahrscheinlich bald vorbei ist…