Am 17. Juni 2021 wird es genau 1000 her gewesen sein, dass ich von Deutschland nach Kanada ausgewandert bin. Und dann sind es nur drei weitere Monate, bis ich mich zumindest theoretisch für die kanadische Staatsbürgerschaft bewerben könnte; es wird also Zeit, einen ersten kleinen Rückblick, oder vielmehr eine Übersicht zu geben darüber was im kanadischen Alltag anders abläuft als im deutschen. Eines vorweg: die Auswanderung bereue ich bisher nicht. Im Ausland leben und arbeiten war bisher ein Abenteuer mit all seinen Höhen und Tiefen, und Erlebnissen, von denen ich die meisten nicht missen möchte. Meine persönlichen Eindrücke werde ich in diesem ersten Teil des Artikels in drei Abschnitte gliedern:
Kultur, Mentalität und Sprache
Klima, Wetter und Natur
Verkehrswesen und Infrastruktur
Im zweiten Teil gehe ich dann auf vier weitere Aspekte ein: Lebenskosten, Öffentliche Einrichtungen, Dienstleistungen, und Events, Gesundheit und Essen.
*Disclaimer: Ich schreibe aus der Ottawa-Perspektive; Menschen an der Küste oder im mittleren Westen oder im hohen Norden haben sicherlich ganz andere Ansichten.
Kultur, Mentalität und Sprache
`Tschuldigung, ich bin nett
Kanadier sind für ihre offene Art und stets freundliche Einstellung bekannt. Etwas, wovon man als Deutscher mitunter gut etwas mehr gebrauchen kann, sollte man meinen. Und es stimmt, für buchstäblich alles wird sich entschuldigt, es gibt Unmengen freundlichen Small-Talks unter Fremden, und als sich die Welt noch nicht hinter Masken verstecken musste sah man tatsächlich auch mehr Menschen lächeln als das in Deutschland der Fall war. Es ist leicht, miteinander auszukommen.
Zuweilen hat das aber auch seinen Preis. Es scheint, also ob (zumindest manche) Kanadier ihren Druck passiv-aggressiv hinterm Steuer ablassen; es wird zwar nicht gehupt oder geschimpft, aber irgendwie fühlt sich das Fahren auf kanadischen Straßen viel unentspannter an als z.B. in den USA oder Deutschland. Kaum jemand hält sich an die (zugegebenermaßen teilweise fast lächerlichen) Geschwindigkeitsbegrenzungen, überholen auf allen Seiten, fahren dicht auf.
Als Deutscher wünscht man sich manchmal auch jemanden mit dem man sich gemeinsam über Dinge aufregen kann. Auf Arbeit, zum Beispiel, kann es ja fast schon heilsam sein, sich mit Kollegen über bestimmte Prozesse oder Regeln auszulassen. Kanadier regen sich ja nichteinmal über das Wetter auf (und dazu gäbe es hier allen Grund!). Es gibt zwar durchaus einige, die beispielsweise den langen und kalten Winter nicht mögen, aber es wird sich kaum negativ darüber geäußert. (Wohingegen ich als Deutscher mich ja offensichtlich schon darüber aufregen kann, dass sich andere nicht aufregen).
Parlez-vous Französisch?
Kanada ist offiziell zweisprachig – Englisch und Französisch. Und während es in der Provinz Quebec so gut wie unmöglich ist, nur mit Englischkenntnissen zurechtzukommen, ist es im Rest des Landes unmöglich, die französische Sprache zu ignorieren; insbesondere hier in Ottawa. Alles wird in beiden Sprachen kommuniziert: Straßenschilder, Lebensmittelverpackungen, offizielle Webseiten, Flyer, Behördenpost, Ansagen im öffentlichen Nah- und Fernverkehr, und selbst der Premierminister hält seine Reden sowohl in Englisch als auch in Französisch. Potentiell ja eine großartige Gelegenheit, an den eigenen Sprachkenntnissen zu arbeiten. Davon abgesehen jedoch kommt einem das aus europäischer Perspektive beinahe lächerlich vor und kann zeitweise auch ziemlich nerven – in Telefonhotlines zum Beispiel, wenn jedes einzelne Menü in zwei Sprachen vorgelesen wird.
Wie weit ist ein Kilo Fahrenheit pro Gallone?
Ok, spätestens hier würde jeder Europäer verrückt werden. Inklusive der Briten. Maßeinheiten in Kanada sind ein großes Durcheinander und es ist komplizierter als in den USA (wo zumindest konsequent ein System verwendet wird). Kanadier verwenden sowohl das metrische (offiziell) als auch das imperiale (angloamerikanische) System, abhängig vom jeweiligen Kontext. Sie benutzten auch sowohl Grad Celsius als auch Grad Fahrenheit, um Temperaturen zu messen. Auch wieder abhängig vom Kontext. Ein paar amüsante Beispiele:
In der Küche wird Fahrenheit verwendet (beim Backen, Temperaturen im Kühlschrank). Wenn man draußen ist, nimmt man Celsius (Lufttemperatur). Oh, wenn man allerdings die Wassertemperatur von Pools misst (egal ob im Freien oder drinnen), heißt es wieder Fahrenheit.
Wenn man große Entfernungen misst, dann wird das metrische System verwendet (z.B. Kilometerangaben auf Straßenschildern); außer es handelt sich um Züge, dann nimmt man Meilen. Wenn kleine Entfernungen oder Flächen gemessen werden, dann greift man wiederum auf das imperiale System zurück (Körpergröße in Fuß und Inches, Wohnflächen in Quadratfuß). Wenn es sich hingegen um große Distanzen im Laufsport handelt, dann muss man wissen, dass ein Marathon 26 Meilen und 385 Yards lang ist.
Für Massen und Volumen habe ich noch gar keine nachvollziehbare Logik gefunden, und es kann sehr unübersichtlich werden. Beim Einkaufen: Früchte und Gemüse werden im Regal mit Dollar pro Pfund ausgepreist. Auf dem Kassenzettel steht dann allerdings nur noch der Kilopreis. Manche Produkte werden standardisiert in unrunden Portionen verkauft, weil sie in einem System gewogen, und im anderen ausgepreist werden (ein standardisiertes Stück Butter wiegt ein Pfund, auf der Packung steht dann aber nur 454 Gramm). Rohes Fleisch wird in Pfund gewogen, Feinkostfleisch hingegen in Gramm. Ich kaufe Milch in der Literflasche, in Backrezepten wird dann aber auf einmal alles in „Cups“ (Tassen) angegeben.
Klima, Wetter und Natur
Ottawa ist ein genialer Ort für alle, die die Extreme des Kontinentalklimas mögen. Sehr kalte Winter, sehr heiße Sommer, und jede Menge Sonnenschein. Das fasst es im Grunde gut zusammen. Winter können ziemlich lang werden, mit etwas Schnee ab Ende Oktober, richtig viel Schnee ab Anfang Januar, und im Jahre 2019 hatten wir Schneestürme bis in den April hinein. Dieses Jahr ist mein erstes, in dem es einen richtigen Frühling gibt; 2019 und 2020 wechselte es beinahe abrupt vom Winter in den Sommer, gegen Ende Mai. Zwischen Juni und August kann es gut und gern über 35ºC heiß werden. Der Herbst ist die ansehnlichste Jahreszeit mit all den Ahornbäumen, die ihre Blätter in die unterschiedlichsten Farben färben, von den unterschiedlichsten Gelbschattierungen, über rot bis hin zu pink. Ab und zu wird auch mal ein Tornado gesichtet, es gibt Überschwemmungen, oder extreme Schneemassen.
Ich bin generell ziemlich anpassungsfähig (generell allerdings auch nicht der größte Winterfan), sodass der heiße Sommer und wunderschöne Herbst im Großen und Ganzen eine gute Entschädigung für die lange und schneereiche kalte Saisonsind. Nichtsdestotrotz wird es bald Zeit, mal eine andere Klimazone auszuprobieren – und davon gibt es in Kanada ja glücklicherweise einige!
Es gibt hier noch eine fünfte Saison – Bug Season! So sehr die Kanadier ihre großen National- und Provinzialparks lieben, so sehr versuchen Jahr für Jahr stechende Insekten diese Freude zu vermiesen. Unzählige Mücken und Black Flies (Kriebelmücken) tauchen zwischen Ende Mai und August überall dort auf, wo es Wasser gibt, also quasi überall, sobald man aus der Stadt raus ist. Und falls das Mückenspray nicht ausreicht, kann man hier entsprechend Mücken-Jacken inklusive Kopf- und Gesichtsbedeckung kaufen…
Kanada ist berühmt für seinen vielen Platz und die Vielfalt in Klima, Landschaften, Nationalparks, Gebirge, Küsten. Man kann Grizzlybären im Yukon beobachten oder Eisbären im hohen Norden, die Rocky Mountains besteigen, die endlose Prairie beradeln, sich von den Niagarafällen begeistern lassen, oder zwei verschiedene Ozeane besegeln. Alles Dinge, von denen ich die meisten in den ersten 1000 Tagen nicht untergebracht habe; also genug Grund, noch ein bisschen länger zu bleiben.
Verkehrswesen: Von Distanzen, Straßenzustand und riesigen Autos
Das Verkehrs- und Transportwesen mit all seiner Infrastruktur und den Gewohnheiten der Bevölkerung mag einer der größten Unterschiede zu sein zwischen Kanada und Deutschland. In einem Land, in dem alles über viel größere Distanzen ausgedehnt ist, ist der Besitz eines Autos viel verbreiteter (und oft auch notwendig). Öffentlicher Personennahverkehr ist unterdurchschnittlich, auch teuer, und ich weiß nicht, ob das der Grund oder das Ergebnis der vielen Fahrzeuge im Privatbesitz ist.
Große Autos, billiges Benzin, schlechte Straßen
Selbst innerhalt der Stadtgrenzen sieht man viele und viel zu große Autos und Pickup Trucks. Für Kanadier ist es nicht ungewöhnlich, irgendwo außerhalb der Stadt ein Cottage (Hütte, kleines Ferienhaus) zu besitzen, welches dann auch oft Autos mit genug Ladefläche und Offroad-Kapazität voraussetzt. In den Vororten gibt es zudem einfach auch genug Platz, um große Autos zu parken, und das Benzin ist verhältnismäßig günstig. Wenn ich mit meinem alten VW Golf durch Ottawa fahre, wünsche ich mir manchmal auch ein Fahrzeug mit dickeren Reifen und besseren Stoßdämpfern – die Straßenverhältnisse sind nicht die besten. Nach über zwei Jahren gewöhnt man sich ein bisschen daran, aber einige der riesigen Schlaglöcher würden in Deutschland mindestens mal eine Klage gegen irgendeine Behörde nach sich ziehen… und wieder ist die Frage: sind die Straßen so schlecht wegen der schweren Autos, oder die großen Autos notwendig wegen der schlechten Straßen? Ein wichtiger Faktor hier ist mit Sicherheit das raue Klima. Im Winter wird tonnenweise Salz gestreut um die Straßen eisfrei zu halten, und jede Nacht gefriert’s dann doch wieder und bricht den Asphalt auf.
Busse und Züge
Eine Monatskarte in Ottawa kostet in etwa dasselbe wie eine in Berlin. Was man dafür bekommt, ist allerdings ganz und gar nicht dasselbe: keine U-Bahn oder S-Bahn, keine Straßenbahn. Lediglich ein Netzwerk lauter und dreckiger Dieselbusse, unpünktlich, ineffizient, und langsam. Der ÖPNV ist dann auch eines der wenigen Dinge, über die sich die Bürger dann auch gern mal aufregen (außerdem noch die lokale Regierung). In meinem ersten Winter kam es sehr häufig vor, dass ich 45 Minuten oder mehr auf einen Bus warten musste, der eigentlich alle 15 Minuten kommen sollte.
In den vergangenen Jahren gab Ottawa Millionen von Dollar für ein lokales Zugsystem, so eine Art S-Bahn aus. Irgendwann wird das sicherlich den Nahverkehr sinnvoll bereichern, mit nur zwei Linien aber natürlich viel zu klein für eine Millionenstadt. Ob ihr es glaubt oder nicht: Wenn man von der Innenstadt zum internationalen Flughafen möchte, muss man mindestens einmal umsteigen. Und es dauert mindestens doppelt so lang, wie mit dem Auto.
Es gibt in Kanada auch ein Fernverkehrs-Zugsystem. Tatsächlich eine sehr angenehme Art zwischen Ottawa und Montreal oder Toronto oder Quebec City, oder, wenn man möchte, die ganze Strecke Richtung Westen nach Vancouver (falls man sich die 2 vollen Tage oder so Zeit nehmen möchte) zu reisen. Die Fernzüge sind sicherlich nicht die schnellsten, aber die Preise sind vernünftig, der Komfort ziemlich gut, und außerdem eine interessante Erfahrung ganz allgemein: man kauft sein Ticket vor der Fahrt, und wartet dann innerhalb des Bahnhofs bis der Zug angekommen ist und die Passagiere ausgestiegen sind, bevor dann alle neuen Fahrgäste zusteigen können. Sehr ähnlich wie am Flughafen.
Flugverkehr
Kanadische Inlandsflüge von Ost nach West oder zurück sind oft teurer als Flüge in die Karibik und manchmal sogar teurer als Flüge nach Europa. Wie auch bei den Internetkosten oder Kosten für die Autoversicherung – manche Dinge in Kanada sind einfach maßlos überteuert.
Interessanterweise gibt es im hohen Norden Kanadas kleine Städte und Gemeinden, die man überhaupt nicht über Land erreichen kann (obwohl sie auf dem Festland liegen). Wer da hin will, ist auf ein Flugzeug angewiesen…
Im zweiten Teil erzähle ich von Lebenskosten, öffentlichen Einrichtungen und Events, Gesundheit und Essen.